Warum Israel den Kontext und die Geschichte des Krieges gegen Gaza auslöschen will - Von Ilan Pappé 06.11.2023 14:55
Die Enthistorisierung des Geschehens hilft Israel, seine völkermörderische Politik in Gaza fortzusetzen. Am 24. Oktober löste eine Erklärung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, eine scharfe Reaktion Israels aus. In seiner Rede vor dem UN-Sicherheitsrat sagte der UN-Chef, dass er das von der Hamas am 7. 10. verübte Massaker zwar aufs schärfste verurteile, die Welt aber daran erinnern wolle, dass es nicht in einem Vakuum stattgefunden habe. Er erklärte, dass man 56 Jahre Besatzung nicht von unserer Beteiligung an der Tragödie, die sich an diesem Tag abspielte, trennen kann.
Die israelische Regierung verurteilte die Erklärung
umgehend. Israelische Beamte forderten den Rücktritt von Guterres und
behaupteten, er habe die Hamas unterstützt und das von ihr verübte Massaker
gerechtfertigt. Auch die israelischen Medien sprangen auf den Zug auf und
erklärten unter anderem, der UN-Chef habe »ein erstaunliches Maß an moralischem
Bankrott« gezeigt. Diese Reaktion deutet darauf hin, dass nun eine neue Art von
Antisemitismusvorwurf auf dem Tisch liegen könnte. Bis zum 7. Oktober hatte
Israel darauf gedrängt, die Definition von Antisemitismus zu erweitern, um
Kritik am israelischen Staat und die Infragestellung der moralischen Grundlage
des Zionismus einzubeziehen. Nun könnte auch die Kontextualisierung und
Historisierung der Geschehnisse den Vorwurf des Antisemitismus nach sich
ziehen. Die Enthistorisierung dieser Ereignisse hilft Israel und den
Regierungen im Westen, eine Politik zu verfolgen, die sie in der Vergangenheit
aus ethischen, taktischen oder strategischen Erwägungen gemieden haben.
So dient der Angriff vom 7. 10. Israel als Vorwand, um eine völkermörderische
Politik im Gazastreifen zu verfolgen. Er ist auch ein Vorwand für die
Vereinigten Staaten, um zu versuchen, ihre Präsenz im Nahen Osten zu
bekräftigen. Und er ist ein Vorwand für einige europäische Länder, im Namen
eines neuen ›Kriegs gegen den Terror‹ demokratische Freiheiten zu
verletzen und einzuschränken. Es gibt
jedoch mehrere historische Zusammenhänge für das, was sich derzeit in
Israel-Palästina abspielt, die nicht ignoriert werden können. Der breitere
historische Kontext reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, als
das evangelikale Christentum im Westen die Idee der ›Rückkehr der Juden‹
zu einem religiösen tausendjährigen Imperativ machte und die Gründung eines
jüdischen Staates in Palästina als Teil der Schritte befürwortete, die zur
Auferstehung der Toten, zur Rückkehr des Messias und zum Ende der Zeit führen
würden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in den Jahren vor dem Ersten
Weltkrieg wurde die Theologie aus zwei Gründen zur Politik.
Erstens lag es im Interesse derjenigen in Großbritannien,
die das Osmanische Reich auflösen und Teile davon in das britische Empire
eingliedern wollten. Zweitens stieß es bei denjenigen in der britischen
Aristokratie auf Resonanz, sowohl bei den Juden als auch bei den Christen, die
von der Idee des Zionismus als
Allheilmittel für das Problem des Antisemitismus in Mittel- und Osteuropa, der
eine unwillkommene Welle jüdischer Einwanderung nach Großbritannien ausgelöst
hatte, begeistert waren. Als diese beiden Interessen zusammenkamen, veranlaßten
sie die britische Regierung, 1917 die berühmte, oder berüchtigte, Balfour-Erklärung
abzugeben. Jüdische Denker und Aktivisten, die das Judentum als Nationalismus
neu definierten, hofften, dass diese Definition die jüdischen Gemeinschaften
vor der existenziellen Bedrohung in Europa schützen würde, indem sie Palästina
als den gewünschten Raum für die ›Wiedergeburt der jüdischen Nation‹
ins Visier nahmen.
In diesem Prozeß verwandelte sich das kulturelle und intellektuelle
zionistische Projekt in ein koloniales Siedlerprojekt, das darauf abzielte, das
historische Palästina zu judaisieren und dabei die Tatsache außer Acht zu
lassen, dass es von einer indigenen Bevölkerung bewohnt war. Im Gegenzug hierzu
brachte die palästinensische Gesellschaft, die damals noch recht ländlich
geprägt war und sich in einem frühen Stadium der Modernisierung und des Aufbaus
einer nationalen Identität befand, ihre eigene antikoloniale Bewegung hervor.
Ihre erste bedeutende Aktion gegen das zionistische Kolonisierungsprojekt war
der al-Buraq-Aufstand von 1929 - und seitdem hat sie nicht aufgehört.
Ein weiterer historischer Kontext, der für die
gegenwärtige Krise von Bedeutung ist, ist die ethnische Säuberung Palästinas im
Jahr 1948, zu der auch die gewaltsame Vertreibung der Palästinenser in den
Gazastreifen aus Dörfern gehörte, auf deren Ruinen einige der am 7. Oktober
angegriffenen israelischen Siedlungen errichtet wurden. Diese entwurzelten
Palästinenser waren Teil der 750.000 Palästinenser, die ihre Heimat verloren
und zu Flüchtlingen wurden. Diese ethnische Säuberung wurde von der
Weltöffentlichkeit zur Kenntnis genommen, aber nicht verurteilt. Infolgedessen
griff Israel weiterhin auf ethnische Säuberungen zurück, um die vollständige
Kontrolle über das historische Palästina zu erlangen, wobei so wenig
einheimische Palästinenser wie möglich übrigblieben. Dazu gehörte die
Vertreibung von 300.000 Palästinensern während und nach dem Krieg von 1967 und
die Vertreibung von mehr als 600.000 aus dem Westjordanland, Jerusalem und dem
Gazastreifen seither.
Hinzu kommt die israelische Besatzung des Westjordanlands und des
Gazastreifens. In den vergangenen 50 Jahren haben die Besatzungsmächte die
Palästinenser in diesen Gebieten einer ständigen kollektiven Bestrafung
unterzogen, indem sie sie ständigen Schikanen durch israelische Siedler und
Sicherheitskräfte aussetzten und Hunderttausende von ihnen inhaftierten. Seit
der Wahl der derzeitigen fundamentalistisch-messianischen israelischen
Regierung im November 2022 haben all diese harten Maßnahmen ein noch nie
dagewesenes Ausmaß erreicht. Die Zahl der getöteten, verletzten und verhafteten
Palästinenser im besetzten Westjordanland ist sprunghaft angestiegen. Darüber
hinaus wurde die Politik der israelischen Regierung gegenüber christlichen und
muslimischen heiligen Stätten in Jerusalem noch aggressiver.
Schließlich ist da noch der historische Kontext der 16-jährigen Belagerung des
Gazastreifens, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung Kinder sind. Im Jahr 2018
warnten die Vereinten Nationen bereits, dass der Gazastreifen bis 2020 zu einem
menschenunwürdigen Ort werden würde. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass
die Belagerung als Reaktion auf die demokratischen Wahlen verhängt wurde, die
die Hamas nach dem einseitigen israelischen Rückzug aus dem Gebiet gewonnen
hatte. Noch wichtiger ist es, in die 1990er Jahre zurückzugehen, als der
Gazastreifen mit Stacheldraht umzäunt und nach den Osloer Verträgen vom
besetzten Westjordanland und von Ostjerusalem abgekoppelt wurde. Die Isolierung des
Gazastreifens, der Zaun um ihn herum und die zunehmende Judaisierung des
Westjordanlands waren ein deutliches Zeichen dafür, dass Oslo in den Augen der
Israelis eine Besetzung mit anderen Mitteln bedeutete und nicht den Weg zu
einem echten Frieden. Israel kontrollierte die Ein- und Ausgänge des
Gaza-Ghettos und überwachte sogar die Art der Lebensmittel, die in den
Gaza-Streifen gelangten, und beschränkte sie bisweilen auf eine bestimmte
Kalorienzahl. Die Hamas reagierte auf diese lähmende Belagerung mit dem Abschuß
von Raketen auf zivile Gebiete in Israel.
Die israelische Regierung behauptete, diese Angriffe seien durch den
ideologischen Wunsch der Bewegung motiviert, Juden zu töten – eine neue Form von Nazim – und
ignorierte dabei sowohl den Kontext der Nakba als auch die unmenschliche und
barbarische Belagerung von 2 Millionen Menschen und die Unterdrückung ihrer
Landsleute in anderen Teilen des historischen Palästinas. Die Hamas war in
vielerlei Hinsicht die einzige palästinensische Gruppe, die versprach, diese
Politik zu rächen oder darauf zu reagieren. Die Art und Weise, wie sie sich zu
reagieren entschieden hat, könnte jedoch ihren eigenen Untergang bedeuten,
zumindest im Gazastreifen, und könnte auch einen Vorwand für die weitere
Unterdrückung des palästinensischen Volkes liefern. Die Grausamkeit des
Angriffs läßt sich in keiner Weise rechtfertigen, was aber nicht bedeutet, dass
er nicht erklärt und in einen Kontext gestellt werden kann. So schrecklich er
auch war, die schlechte Nachricht ist, dass er trotz der enormen menschlichen
Verluste auf beiden Seiten nicht die Spielregeln verändert hat. Was bedeutet
dies für die Zukunft?
Israel wird ein Staat bleiben, der von einer Siedler-Kolonialbewegung gegründet
wurde, die weiterhin seine politische DNA beeinflussen und seinen ideologischen
Charakter bestimmen wird. Das bedeutet, dass es trotz seiner Selbstdarstellung
als einzige Demokratie im Nahen Osten eine Demokratie nur für seine jüdischen
Bürger bleiben wird. Der interne Kampf innerhalb Israels zwischen dem Staat
Judäa, dem Siedlerstaat, der Israel theokratischer und rassistischer machen
will, und dem Staat Israel, der den Status quo beibehalten will, der Israel bis
zum 7. Oktober beschäftigte, wird erneut ausbrechen. In der Tat gibt es bereits
Anzeichen für seine Rückkehr. Israel wird, wie auch immer sich die Situation in
Gaza entwickeln wird, weiterhin ein Apartheidstaat bleiben, als was es von
einer Reihe von Menschenrechtsorganisationen bezeichnet wurde. Die
Palästinenser werden nicht verschwinden und ihren Befreiungskampf fortsetzen,
wobei sich viele Zivilgesellschaften auf ihre Seite stellen und deren
Regierungen aber weiter Israel unterstützen und ihm eine außergewöhnliche
Immunität gewähren werden.
Der Ausweg bleibt derselbe: Ein Regimewechsel in Israel,
der gleiche Rechte für alle vom Fluß bis zum Meer bringt und die Rückkehr der
palästinensischen Flüchtlinge ermöglicht. Andernfalls wird der Kreislauf des
Blutvergießens nicht enden.
Ilan Pappé ist Direktor des Europäischen Zentrums für Palästinastudien an der
Universität von Exeter. Er hat zahlreiche Bücher über den Nahen Osten und die
Palästina-Frage veröffentlicht.
https://www.seniora.org/politik-wirtschaft/israel/ilan-pappe-warum-israel-den-kontext-und-die-geschichte-des-krieges-gegen-gaza-ausloeschen-will 5. 11. 23 Ilan Pappé: Warum Israel den Kontext und die Geschichte
des Krieges gegen Gaza auslöschen will
Quelle:
https://www.aljazeera.com/opinions/2023/11/5/why-israel-wants-to-erase-context-and-history-in-the-war-on-gaza
5 Nov 2023
Why Israel wants to erase context and history in the war on Gaza – By Ilan
Pappé
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