Schmutziger Krieg und kein Ende Das Jahr im Rückblick - Heute: der Irak. Hunderttausende von Einwohnern Opfer der US-Aggression - Von Joachim Guilliard

In der öffentlichen Wahrnehmung war das Jahr 2005 im Irak für die USA noch erfolgreich zu Ende gegangen: Nach dem Referendum über eine neue Verfassung waren auch die Wahlen im Dezember zumindest formal gut verlaufen. Am Ende dieses Jahres jedoch ist das Desaster, das die Besatzer 2006 im Irak anrichteten, nicht mehr zu ignorieren. Gleichzeitig ist auch der Widerstand weiter gewachsen. Angesichts von Chaos, Gewalt und beinahe 3000 gefallenen US-Soldaten mußte schließlich auch Bush bekennen, daß die USA im Irak nicht am Gewinnen sind. Die Meilensteine in diesem Jahr sollten nach dem Willen Washingtons die Bildung einer international anerkannten Regierung und die Schaffung eines gesetzlichen Rahmens für die Übernahme irakischer Staatsbetriebe und der Ölförderung durch ausländische Konzerne sein. Doch bereits während des viermonatigen Geschachers um ihre Zusammensetzung verspielte die neue Regierung den größten Teil ihres Kredites. Während die US-Lakaien ihre Ministerien als Pfründe und Machtbasen ausbauten, blieb die Regierung selbst nahezu handlungsunfähig und ohne nennenswerten Einfluß.

Ein Trugbild
Zum einschneidendsten Ereignis sollte ein Bombenanschlag werden, der im Februar von Unbekannten auf die Goldene Moschee in Samarra, eines der höchsten Heiligtümer der Schiiten, verübt wurde. Obwohl die Umstände eher dagegen sprachen, wurden sofort sunnitische Widerstandsgruppen dafür verantwortlich gemacht. Bereits kurz nach dem Anschlag begann ein Rachefeldzug gegen sunnitische Einrichtungen und Personen. Der explosionsartig eskalierenden Gewalt fielen schon in den folgenden zwei Wochen über 1000 Iraker zum Opfer. Bis Oktober stieg allein die Zahl der im Bagdader Leichenschauhaus monatlich eingelieferten Gewaltopfer auf 2722. Die meisten gingen auf das Konto der Milizen schiitischer Regierungsparteien und der Todesschwadronen innerhalb der Sicherheitskräfte. Auch wenn die Besatzungspolitik tatsächlich Spannungen zwischen den Religionsgruppen schuf, sind sie nicht die Ursachen dieser Gewalt. Neben blutigen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden politischen oder kriminellen Gruppen handelt es sich hauptsächlich um die Entfesselung eines schmutzigen Krieges proamerikanischer Kräfte gegen die Gegner der Besatzung.
 
Mit dem Bericht der Baker-Kommission erkannte schließlich auch das offizielle Washington die katastrophale Lage im Irak prinzipiell an. In Europa reagierte man geradezu euphorisch auf den Realismus, mit dem die vom früheren Außenminister James Baker geleitete »Iraqi Study Group« endlich den Tatsachen ins Auge blicke. Zu Unrecht, pflegt der Report doch weiterhin das Trugbild eines von den Besatzungsmächten geförderten staatlichen Aufbauprojektes zum Wohle der irakischen Bevölkerung, dessen Erfolg bisher nur durch konfessionelle Konflikte und bewaffnete Extremisten verhindert wurde. Ignoriert wurde, daß dieses US-amerikanische Projekt von den meisten Irakern abgelehnt wird und der Widerstand gegen die Besatzung von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Vor allem blendet aber auch die Baker-Kommission die unmittelbare Verantwortung der USA für Chaos und Gewalt im Irak völlig aus.
 
Insgesamt 650’000 Iraker waren von März 2003 bis Juni 2006 Opfer von Krieg und Besatzung geworden, so das Ergebnis einer im Oktober in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichten Studie, 600’000 davon starben eines gewaltsamen Todes. Die Zahl der Opfer hat sich jedes Jahr beinahe verdoppelt, bis zum 4. Jahrestag des Krieges wird daher, so steht zu befürchten, die Gesamtzahl die Millionengrenze überschritten haben. Die Hälfte bis zwei Drittel der Gewaltopfer wurden von den Besatzungstruppen oder den US-geführten irakischen Hilfstruppen selbst getötet, ein Siebtel allein durch Luftangriffe. Von diesen tödlichen Kampfeinsätzen, den oft wochenlangen Belagerungen und Bombardierungen ganzer Städte und Stadtviertel hört und sieht man hierzulande so gut wie nichts. Berichtet wird nur über die Anschläge irakischer Kräfte auf die Zivilbevölkerung, Morde und Entführungen. Informationen über Hintergründe sucht man vergebens. Selten erfährt man etwas über die politische Ausrichtung der irakischen Akteure, angegeben wird meist nur deren mutmaßliche Konfession. So entsteht Stück für Stück das falsche Bild eines Krieges zwischen »den Sunniten« und »den Schiiten«, »den Arabern« und »den Kurden«. Eine Hoffnung auf eine baldige Wende bietet auch der Baker-Bericht nicht. Die paritätisch von hochrangigen Republikanern und Demokraten besetzte Kommission hält an der Besatzung des Landes fest. Ein zentraler Teil ihrer Empfehlungen befaßt sich mit der Sicherung eines langfristigen Zugriffs ausländischer Konzerne auf das irakische Öl. Unverblümt wird die Umwandlung der nationalisierten Ölindustrie in ein »kommerzielles Unternehmen« gefordert, das ganz oder teilweise an ausländische Firmen verkauft werden könne.
 
Komplett abziehen
Der einzige sinnvolle Weg aus dem Desaster, die Besatzung zu beenden und die militärischen und zivilen Kräfte komplett abzuziehen, wird auch bei den Demokraten nur von einer Minderheit unterstützt. Die Baker-Kommission empfiehlt lediglich einen schrittweisen Abzug der Kampftruppen, etwa ein Viertel der im Irak stationierten US-Einheiten, und verstärkte Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte, um ihnen die Hauptlast des Krieges zuschieben zu können. Eine solche »Irakisierung« der Besatzung scheiterte aber bisher schon daran, daß nur ein kleiner Teil der neuen Einheiten bereit war, gegen ihre Landsleute im Widerstand zu kämpfen. Einsatzbereit waren bisher nur die Einheiten, die aus den Milizen der kurdischen und schiitischen Verbündeten gebildet wurden. Deren Loyalität gehört aber ihren jeweiligen Parteien, ihr Einsatz schürt tatsächlich Bürgerkriegstendenzen. Wahrscheinlich wird die Bush-Administration den Vorschlägen des Nationalen Sicherheitsrats folgen und bis zu 40’000 zusätzliche Truppen nach Bagdad entsenden - kurzfristig, wie es heißt, um nach einem Erfolg die Truppenstärke schneller reduzieren und in eine langfristige Phase des »Trainings« und der »Beratung« übergehen zu können. Dies würde sich in die bisher verfolgte Strategie einfügen, sich zunächst auf die Wiederherstellung der Kontrolle über die Hauptstadt zu konzentrieren.
 
Bereits im Sommer waren hierfür 14’000 zusätzlichen US-Soldaten und 30’000 irakische Hilfstruppen in Bagdad zusammengezogen worden. Die großangelegte Operation scheiterte jedoch kläglich. Die Zahl der täglichen Angriffe auf Besatzungstruppen hat in Bagdad wie im übrigen Land einen neuen Höchststand erreicht. Im jüngsten Pentagon-Bericht ist von mittlerweile 1000 Angriffen pro Woche die Rede, überwiegend auf Besatzungstruppen. Parallelen zum Vietnamkrieg sind unübersehbar. 1968 war das Scheitern der USA offensichtlich geworden, die Ablehnung in den USA groß. Ab 1969 wurde eine »Vietnamisierung« des Krieges begonnen, 1970 arbeitete die »Vietnam Special Study Group« unter Henry Kissinger konkrete Pläne für einen phasenweisen Rückzug aus. In der Folge wurden die verheerenden Bombardements noch intensiviert und auf Laos und Kambodscha ausgedehnt. Es wird wesentlich mehr Engagement der Antikriegsbewegung weltweit als bisher nötig sein, um zu verhindern, daß das Ende des Krieges sich ähnlich lange und blutig hinzieht wie damals in Indochina.
 
http://www.jungewelt.de/2006/12-29/017.php 29. 12. 2006