Uri Avnery: Todeskuß für Abu Mazen

Keine Freilassung von Gefangenen, kein Abbau von Kontrollpunkten: Israel schwächt faktisch den palästinensischen Präsidenten und stärkt die Hamas-Regierung 1

Seitdem Judas Ischariot Jesus umarmt und geküßt hat, hatte es in Jerusalem solch einen Kuß nicht noch einmal gegeben. Nachdem Ariel Scharon und Ehud Olmert Mahmud Abbas (Abu Mazen) jahrelang boykottiert hatten, wurde er am 23. Dezember in die offizielle Residenz des Ministerpräsidenten eingeladen. Dort umarmte Olmert ihn vor den Kameras und küßte ihn auf beide Wangen. Abbas sah überrumpelt aus und erstarrte. Irgendwie erinnerte die Szene an einen anderen politisch motivierten Körperkontakt: das peinliche Geschehen beim Camp-David-Treffen im Jahr 2000, als Ministerpräsident Ehud Barak Yassir Arafat mit Gewalt in den Raum schob, in dem US-Präsident William Clinton wartete. Bei beiden Vorfällen war es eine Geste, die den Anschein erwecken sollte, man wolle dem palästinensischen Führer Respekt zollen, aber beides waren tatsächlich Gewaltakte - anscheinend in Unkenntnis der Sitten des anderen Volkes und dessen heikler Situation. In Wirklichkeit ging es um etwas völlig anderes. Nach dem neuen Testament küßte Judas Ischariot Jesus, um ihn den Häschern zu zeigen, damit sie ihn festnehmen konnten. Ein scheinbarer Akt der Liebe und der Freundschaft wird hier praktisch zu einem Todesurteil.
 
Olmerts Gefallen
Oberflächlich betrachtet, war Olmert dabei, Abbas einen Gefallen zu tun. Er behandelte ihn mit Respekt, stellte ihn seiner Frau vor und ehrte ihn, indem er ihn mit »Herr Präsident« anredete. Das sollte nicht unterschätzt werden. In Oslo wurden in den 90er Jahren allein wegen dieses Titels gigantische Wortgefechte geführt. Die Palästinenser bestanden darauf, daß der Chef der zukünftigen palästinensischen Behörde »Präsident« genannt würde. Die Israelis wiesen dies scharf zurück, weil dieser Titel auf etwas wie einen Staat hätte verweisen können. Am Ende stimmte man darin überein, daß in der (bindenden) englischen Version der arabische Titel »Ra’is« verwendet werden sollte, da in dieser Sprache die Worte »Präsident« und »Vorsitzender« identisch sind. Abbas, der 1993 das Dokument für die palästinensische Seite unterzeichnete, hat sich damals wahrscheinlich nicht im Traume vorstellen können, daß er der erste sein würde, der von einem israelischen Ministerpräsidenten mit »Herr Präsident« angesprochen werden würde. Nach dem aufgezwungenen Kuß benötigte Abbas dringend eine großzügige israelische Geste, um dieses Treffen in den Augen seines Volkes rechtfertigen zu können. Und warum sollte Olmert nicht etwas Außergewöhnliches tun, etwas mit längerem Nachhall? Zum Beispiel auf der Stelle tausend Gefangene entlassen, Hunderte von Kontrollpunkten entfernen, die innerhalb der Westbank zerstreut liegen, eine Passage zwischen der Westbank und dem Gazastreifen öffnen?
 
Doch nichts von alldem geschah bis heute - Olmert entließ nicht einen einzigen Gefangenen, keine Frau, kein Kind, keinen alten Mann, keinen Kranken. Er kündigte tatsächlich zum soundsovielten Male an, man wolle die Situation an den Straßensperren erleichtern, aber die Palästinenser berichten, bisher nichts davon bemerkt zu haben. Für sie sah dies erneut nach einem peinlichen Mißerfolg ihres Präsidenten aus: Er war nach Canossa gegangen, um wertlose Versprechungen zu erhalten, die dann nicht gehalten wurden. Warum spielte Olmert dieses Theater? Die naive Erklärung ist politisch: US-Präsident George W. Bush wünscht etwas Bewegung im israelisch-palästinensischen Konflikt, was dann als amerikanischer Erfolg verbucht werden könnte. Condoleezza Rice war die Übermittlerin dieser Order an Olmert. Schließlich war er damit einverstanden, sich mit Abbas zu treffen. Ein Kuß wurde getätigt. Versprechungen wurden gemacht und gleich wieder vergessen. Aber es gibt auch eine zynischere Erklärung: Wenn man Abbas demütigt, stärkt man die Hamas. Die palästinensische Unterstützung für Abbas hängt von einer einzigen Sache ab: von seiner Fähigkeit, von den USA und Israel Dinge zu erhalten, die Hamas nicht erhält. Die Amerikaner und die Israelis lieben ihn - so lautete das palästinensische Argument - also werden sie ihm sicher geben, was so dringend benötigt wird: die Massenentlassung von Gefangenen, ein Ende der »gezielten Tötungen«, die Entfernung der monströsen Straßensperren, die Eröffnung der Passage zwischen der Westbank und dem Gazastreifen, den Beginn ernsthafter Friedensverhandlungen. Doch wenn Abbas nichts von all dem erreichen kann, was bleibt dann außer den Methoden von Hamas? Der Deal mit den Gefangenen ist ein gutes Beispiel. Nichts schmerzt die Palästinenser mehr als dies: Es gibt kaum eine palästinensische Großfamilie, die nicht Mitglieder im Gefängnis hat. Das betrifft jede Familie: einen Vater, einen Bruder, einen Sohn, manchmal eine Tochter. In jeder Nacht »verhaftet« die israelische Armee ein weiteres Dutzend oder mehr. Wie kann man sie freibekommen?
 
Bewährtes Mittel
Hamas hat ein bewährtes Mittel: Israelis gefangennehmen (in den israelischen und internationalen Medien werden Israelis »gekidnappt«, während Palästinenser »verhaftet« werden). Für die Rückkehr des israelischen Soldaten Gilad Schalit wird Olmert viele Gefangene freilassen. Nach palästinensischer Erfahrung verstehen die Israelis anscheinend nur die Sprache der Gewalt. Einige von Olmerts Beratern hatten eine brillante Idee: Abbas ein paar hundert Gefangene quasi als Geschenk zu übergeben - einfach so. Das würde die Position des palästinensischen Präsidenten stärken und den Palästinensern beweisen, daß sie so bei uns mehr erreichen könnten als mit Gewalt. Das würde der Hamas-Regierung einen schweren Schlag versetzen; denn diese zu kippen, ist ja das oberste Ziel beider Regierungen, der USA und der israelischen. Das kommt gar nicht in Frage, schrie eine andere Gruppe von Olmerts Imageberatern. Wie würden dann die israelischen Medien reagieren, wenn Gefangene entlassen werden, bevor Schalit nach Hause kommt? Das Problem ist, daß Schalit von der Hamas und ihren Verbündeten festgehalten wird und nicht von Abbas. Wenn es verboten ist, vor der Rückkehr Schalits Gefangene freizulassen, dann sind alle Karten in den Händen von Hamas. In diesem Fall würde es wohl sinnvoll sein, mit Hamas zu reden. Undenkbar! Die Folge davon: keine Stärkung von Abbas, kein Dialog mit der Hamas, es geschieht nichts.
 
In diesem Zusammenhang ist auch folgende Information von Interesse:
 
Spaltung. Millionen für Fatah aus Washington 2
Die US-Regierung von Präsident George W. Bush bittet den Kongreß um 83 Millionen $ für den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas. Das Geld soll dessen Sicherheitskräften zugute kommen und für deren Ausbildung, Uniformen und Fahrzeuge verwendet werden. Wie aus Regierungskreisen in Washington verlautete, könnte die Abbas-Hilfe auch noch steigen. Die regierende Hamas reagierte verärgert auf den Plan. Den Amerikanern gehe es nicht darum, Bevölkerungen oder Regierungen zu unterstützen, sagte Hamas-Sprecher Fausi Barhum. Sie wollten vielmehr amerikanische Projekte unterstützen, um Bevölkerungen zu spalten. Abbas seinerseits fühlte sich allein durch die Millionenzusage gestärkt. Der Fatah-Chef erklärte am Wochenende die im Gazastreifen operierende paramilitärische Sicherheitstruppe der Hamas-Regierung für illegal. Abbas begründete seinen Verbotserlaß mit einem anhaltenden Sicherheitschaos. Die Hamas-Einheit bzw. ihre Offiziere und Mitglieder stünden fortan außerhalb des Gesetzes. Sie könnten aber in die US-finanzierte und trainierte Sicherheitstruppe des Präsidenten integriert werden.
 
Das Innenministerium verurteilte den Erlaß als grünes Licht für Übergriffe auf die Hamas. Kurze Zeit später erklärte ein Ministeriumssprecher, die Exekutivstreitmacht werde von rund 6000 auf 12000 Mann aufgestockt. Sechs militante palästinensische Gruppen bekundeten ihre Unterstützung für die Hamas. Auch Ministerpräsident Ismail Hanija betonte, die Miliz werde nicht aufgelöst. Der Fatah warf er vor, die Stabilität in den Autonomiegebieten zu untergraben und einen Dialog zur nationalen Einheit zu verhindern.
 
In der Stadt Gaza versammelten sich am Sonntag mehrere zehntausend Fatah-Anhänger in einem Stadion, um den 42. Jahrestag der Gründung ihrer Organisation zu begehen. Dabei erging eine deutliche Botschaft an die Hamas, sich den Anordnungen des Präsidenten nicht zu widersetzen. Bewaffnete Fatah-Anhänger verschleppten den Vizebürgermeister von Nablus, einen Hamas-Funktionär im Westjordanland sowie mehrere Hamas-Mitglieder in Gaza. Seit Mittwoch wurden bei gewaltsamen innerpalästinensischen Zusammenstößen im Gazastreifen 16 Anhänger oder Mitglieder von Hamas und Fatah getötet. Mehr als 70 Menschen wurden verletzt, unter ihnen zahlreiche Kinder. Während einer Sitzung seiner Fatah in Bethlehem sagte Abbas am Sonntag nach Angaben eines Teilnehmers, vorgezogene Wahlen seien die einzige Möglichkeit, zu einer Regierung der nationalen Einheit zu kommen. Ein Datum für die von der Hamas als »Putschversuch« bezeichnete Parlamentswahl legte Abbas weiterhin nicht fest.
 
Uri Avnery, Gründer der israelischen Friedensbewegung »Gush Schalom« und Aachener Friedenspreisträgers, vertritt seit 1948 die Idee eines israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: Israel und Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Für sein Engagement erhielt der 1923 geborene Avnery viele Auszeichnungen; im Jahr 2002 wurde er für seine friedensstiftenden Aktivitäten im Nahen Osten mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik der Stadt Oldenburg geehrt.
 
1http://www.jungewelt.de/2007/01-08/049.php8.1.2007
2http://www.jungewelt.de/2007/01-08/051.php