Notwehr und Vorurteil - Die politische Kultur Israels Von Akiva Eldar 21.11.2007 16:19
Avigdor Lieberman ist Chef der extrem rechten Partei Israel Beitenu (Unser Haus Israel). Seit kurzem gehört er als stellvertretender Ministerpräsident wieder der Regierung an. Was ist los mit der israelischen Gesellschaft, dass sie solche rassistischen Führungspersönlichkeiten hervorbringt?
Die Frage ist falsch gestellt. Sie müsste
eigentlich lauten, warum der Aufstieg eines solchen Mannes sich erst jetzt,
fast sechzig Jahre nach der Staatsgründung vollzieht. Ebenso unsinnig ist die
Frage, warum die Israelis solche Greueltaten wie die Auslöschung einer ganzen
palästinensischen Familie im Gaza-Streifen dulden. Erstaunlich ist vielmehr,
dass nach vierzig Jahren Besatzungsregime, immer noch eine nicht
unbeträchtliche Zahl von Israelis auf die Straße gehen, um gegen ein Unrecht
wie die Bombardierung von Beit Hanun zu protestieren. Seit seiner Gründung hat
der Staat Israel stets laut und deutlich bekundet, die einzige Demokratie im
Nahen Osten zu sein. Im Vergleich zu Syrien, dem Iran und (weniger deutlich)
Ägypten und Jordanien steht Israel natürlich gut da, was demokratische
Kriterien wie Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und freie Wahlen angeht.
Strukturell und formell ist Israel eine hochentwickelte Demokratie; moralisch
ist diese Demokratie jedoch fragil und gefährdet. Und sie ist tief gesunken. Anders
als in Westeuropa oder der USA fehlen in Israel Hemmnisse und Gegengewichte, um
die demokratische Balance zu wahren. Und auch zur Zivilgesellschaft gehören
noch immer Gruppierungen, die unmittelbar vom Staat abhängig sind.
In der politischen Kultur, die Gründerväter
wie David Ben Gurion aus Osteuropa mitgebracht hatten, hatten demokratische
Werte keinen zentralen Stellenwert. Die Staatsgründer standen vor der Aufgabe,
eine neue Nation zu schaffen und Israels Überleben im Konflikt mit den Arabern
zu sichern. Ihre Ideale waren die Loyalität zum Staat, die Geschlossenheit und
die Integration der Bevölkerung. Nach dieser Vorstellung war Israel der
Schmelztiegel, in dem sehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen - nicht zuletzt
die Überlebenden der Schoah - durch gemeinsame Wertvorstellungen integriert
werden sollten. Deshalb legte man Wert auf die äußere Form der Demokratie, wie
regelmäßige Wahlen; schränkte zugleich aber aus Gründen der Sicherheit die
Pressefreiheit durch eine Militärzensur ein. Unter Berufung auf die Sicherheit
blieben die Araber in Israel von 1948 bis 1966 dem Militärrecht unterstellt und
mussten Einschränkungen ihrer Bürgerrechte hinnehmen. Wie wenig die
demokratischen Werte galten, zeigte sich auch an der Haltung der jüdischen
Bevölkerung einschließlich der Eliten: Eine große Mehrheit nahm die staatliche
Segregationspolitik gegenüber der arabischen Minderheit wie selbstverständlich
hin. In den Bildungsinstitutionen dominierten Themen wie loyales
Staatsbürgertum, der Konflikt mit den Arabern, Antisemitismus und Wehrdienst.
In den Gemeinschaftskunde-Büchern, die der Jugend die Werte der Demokratie und
Gleichheit nahebringen sollten, gab es Passagen voller unverhüllter Vorurteile.
Bis in die 80er Jahre wurden die Araber in Kinder- wie in Schulbüchern als
niedere Wesen ohne nationale Identität dargestellt, die es nach dem Blut der
Juden dürstet. Diese Darstellung der Araber hat, ebenso wie das negative Bild
von den Gojim (Nichtjuden) und der ausgeprägte Ethnozentrismus, viel dazu
beigetragen, das Gefühl eines »Belagerungszustands« zu erzeugen: das jüdische
Volk als Opfer anderer Nationen. Diese Vorstellung ist sehr dominant, denn die
Juden verstehen ihre Vergangenheit, und namentlich die 2 000 Jahre in der
Diaspora als ununterbrochene Geschichte von Verfolgungen durch die Völker,
unter denen sie lebten. Selbstverständlich ist die Schoah die schlagendste
Bestätigung für diese Annahme. Jedes Jahr bieten zahlreiche israelische Schulen
den Jungen und Mädchen die Möglichkeit, eine Art Pilgerfahrt zu den
Vernichtungslagern in Polen zu unternehmen. Diese Reisen erzeugen bei den
Schülern große Angst und bestärken sie in der Vorstellung von den Juden als
Opfern. Gleichzeitig sind sie noch zu jung, um aus dem Genozid komplexere
Lehren zu ziehen - für das eigene Leben und vor allem für ihre Haltung zur
Besetzung Palästinas, an der sie als Wehrpflichtige irgendwann teilnehmen
müssen. In der Regel rezipieren die Schüler auf solchen Reisen nur die
einfachsten Formeln wie: »Nie wieder!« Aktuell gesprochen: »Wir müssen stark
sein, um eine neue Katastrophe zu verhindern.« Und viele Jugendliche lernen vom
Besuch in Auschwitz vor allem, dass der Völkermord der Nazis und die ganze
Geschichte des Antisemitismus den Israelis besondere Rechte verleihen -
darunter das, die Grundrechte ihrer Nachbarn einzuschränken und dabei gegen
jede Kritik völlig immun zu sein. Es ist kein Zufall, dass Avigdor Lieberman zu
der Gruppe russischer Juden gehört, die erst als Erwachsene aus der Sowjetunion
eingewandert sind, und dass dies auch für die meisten seiner Anhänger gilt.
Seit den 1970er Jahren und insbesondere seit 1990 sind mehr als eine Million
Sowjetbürger ins »Gelobte Land« gekommen. Die meisten hatten keinerlei
Erfahrung mit der westlichen Demokratie und kaum eine Ahnung von dem
israelisch-arabischen Konflikt. Sie zeigten sich besonders anfällig für die
Botschaften der Gewalt von der israelischen Rechten und für den Ruf nach dem
starken Mann, der »Ordnung schaffen« müsse. Die russischsprachigen Zeitungen
unterstützen solche Vorstellungen und hetzen permanent gegen Araber und Linke.
Aber auch den orthodoxen Juden und der national-religiösen Rechten sind
demokratische Werte fremd. Diese Gruppen machen inzwischen etwa ein Viertel der
Bevölkerung aus, und der Anteil wird weiterwachsen - denn ihre Geburtenrate ist
dreimal so hoch wie der Durchschnitt. Die Ignoranz oder Gleichgültigkeit
gegenüber den Werten der Demokratie wirkt sich nicht nur auf den Umgang mit der
arabischen Minderheit in Israel und im Konflikt mit den Palästinensern aus. Sie
zeigt sich auch in der Auseinandersetzung zwischen der Rechten und der Linken
und zwischen Religiösen und Laizisten. Die Ermordung von Ministerpräsident
Jitzhak Rabin hat gezeigt, wie wenig Toleranz diejenigen Israelis, für die Land
und Territorium den höchsten Wert darstellen, gegenüber jenen aufbringen, für
die das Bemühen um Frieden an erster Stelle steht.
Meine Mailbox wird ständig von e-Mails mit
Morddrohungen und Beleidigungen überschwemmt, wobei die meisten von jüdischen
Lesern kommen, denen meine Meinung missfällt. Die unterscheidet sich zwar nicht
von den Positionen, die man in demokratischen Ländern in der Linken oder in der
Mitte des politischen Spektrums antrifft, doch in Israel gilt sie als
extremistisch. Voriges Jahr erstach ein orthodoxer Jude in Jerusalem einen
jungen Mann, der an einer Demonstration von Homosexuellen teilgenommen hatte.
Nach Kundgebungen und Drohungen der Orthodoxen verbot die Polizei in diesem
Jahr den Marsch. Der Vorwand: Nach den Ereignissen von Beit Hanun * könne man
die Sicherheit der Demonstranten nicht gewährleisten. In den fast sechzig
Jahren seit der Staatsgründung hat Israel keine stabile Zivilgesellschaft
hervorgebracht, die den Machthabern in Wirtschaft und Politik entgegentreten
könnte - ja nicht einmal wirksame Instanzen demokratischer Sozialisation. Wenn
die Arbeitspartei, theoretisch die einzige Alternative zur Rechten, in einer
Regierung mitmacht, die die Vernichtung der Palästinensischen Autonomiebehörde
betreibt - wie kann man dann vom Volk moralische Urteile erwarten? Wie soll es
unterscheiden, was demokratisch ist und was nicht? Und wenn sogar der
Friedensnobelpreisträger Schimon Peres eine Regierung stützt, die Wohngebiete
in Gaza und Beirut bombardieren lässt, wird der Normalbürger nur schwer
zwischen gut und böse, richtig und falsch unterscheiden können. Ehud Barak, der
1999 mit den Stimmen der Linken und der israelischen Araber Ministerpräsident
wurde, behauptet seit dem Scheitern des Camp-David-Gipfels im Jahr 2000, er
habe der Welt »Arafats wahres Gesicht enthüllt«, und »aufgedeckt«, dass die palästinensischen
Volksvertreter »keine echten Partner« für die Errichtung ihres Staates an der
Seite Israels seien. Baraks Version vom Scheitern des Oslo-Prozesses hat es
vielen Israelis leichter gemacht, radikalen Projekten ihre Zustimmung zu geben.
Dazu gehört der Bau der Sperrmauer im Westjordanland oder die von Ariel Scharon
eingeleitete »einseitige Abtrennung«, aber auch die Idee eines »Bevölkerungstransfers«,
die zum rassistischen Repertoire von Avigdor Lieberman gehört.
Zu den historischen, psychologischen und
politischen Gegebenheiten kamen in den vergangenen Jahren noch die echten Bedrohungen
hinzu: Selbstmordanschläge der Hamas und des Islamischen Dschihad,
Raketenbeschuss durch die Hisbollah und die Hamas, das iranische Atomprogramm.
Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass ein Regierungssprecher auf diese Gefahren
hinweist. Die Furcht vor dem nächsten Attentat ist stärker als die Hoffnung auf
Frieden. Ein Merkmal der jüdischen Gesellschaft in Israel ist die kollektive
Angst; sie trägt dazu bei, dass militärische Stärke nach wie vor als einzige
Überlebensgarantie gilt. Eine Lösung des israelisch-arabischen Konflikts rückt
damit in immer weitere Ferne. Gewiss, die israelische Gesellschaft hat große
Fortschritte gemacht: Immerhin wird dem palästinensischen Volk heute
grundsätzlich ein selbstbestimmtes Leben in einem eigenen Staat zugestanden. Doch
voll steht man noch nicht zu dieser Lösung, ist also auch nicht bereit, das
gesamte Westjordanland aufzugeben. Darum fehlt es an Fortschritten zur Lösung
des Konflikts. Die Raketenangriffe der Hisbollah auf den Norden Israels im
August dieses Jahres erzeugten eine Atmosphäre der nationalen Gefährdung. Und
die Fehler, die Regierung und Armeeführung an der Front und im Hinterland
unterliefen, haben das Vertrauen der Israelis in die staatlichen Institutionen
erschüttert. Das nutzte Avigdor Lieberman aus, um wieder ins Kabinett zu
gelangen. Nicht zufällig forderte und erhielt er das Amt des Ministers für
Strategische Angelegenheiten. Da es kein eindeutiges Votum der Bevölkerung für
die Beendigung des blutigen Konflikts mit den Arabern gibt, hat die Arbeitspartei
einstweilen beschlossen, die Friedensfahnen einzurollen. Und obwohl der Große
Bruder USA immer noch erklärt, den Nahen Osten »demokratisieren« zu wollen,
sind auch die Banner der Demokratie und der Gleichheit auf Halbmast gesetzt.
Das Scheitern im Libanon hätte ein Anfang
sein können
Auch angesehene Liberale und Aufklärer wie
Bildungsministerin Juli Tamir und der Abgeordnete Ami Ajalon, der gemeinsam mit
Professor Sari Nusseibeh eine couragierte Friedensinitiative gestartet hat,
stimmten für den Eintritt Liebermans in die Regierung. Und eine Reihe
einflussreicher Persönlichkeiten aus dem »zentristischen« Lager in Politik und
Medien lässt sogar Zustimmung zu Liebermans Programm erkennen. Zu dessen »Transfer«
-Plan, einen großen Teil der israelischen Araber in die Palästinensergebiete
abzuschieben, meinen die Gemäßigten, der Chef von Israel Beitenu wolle doch
nur, dass »die israelischen Araber ihre israelische Staatsbürgerschaft gegen
die palästinensische eintauschen«. Die Geschichte bietet Beispiele genug, wie
permanente Bedrohungen oder Wirtschaftskrisen den Boden für faschistische
Regimes bereiteten, die dann mit Gewalt oder mit demokratischem Mitteln die
Macht ergriffen. Selbst in den sehr aufgeklärten Ländern Europas konnte so
etwas geschehen. Israel befindet sich heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, in
einer schlimmeren Lage als etwa Polen und die Tschechoslowakei in den 1960er Jahren.
Damals wussten die Menschen in diesen kommunistischen Ländern, dass sie unter
einem undemokratischen Regime lebten. Sie suchten nach Alternativen, hörten
heimlich westliche Sender und vermittelten ihren Kindern die Werte von Freiheit
und Gerechtigkeit. Die Israelis dagegen suchen keine Veränderung. Sie sind
überzeugt, dass ihre Demokratie ein Vorbild für ihre Nachbarn und ihre Armee
die moralisch sauberste der Welt ist. Sie beten demokratische Bekenntnisse
nach, haben aber Grundprinzipien wie die Rechte von Minderheiten vergessen. Die
Linke verweist zwar warnend auf die Gefahren für die Gesellschaft, ist jedoch
an den Rand gedrängt. Auf die Regierung hat sie nicht nur keinen Einfluss,
sondern sie fördert sogar zunehmend deren Annäherung an die extreme Rechte. Ein
Volk, das seine Vergangenheit vergisst, wird seine Identität in der Gegenwart
schwerlich finden können. Doch dasselbe gilt auch für ein Volk, das sich
vornehmlich über die Vergangenheit definiert: Es kann sich keine andere Zukunft
in einer neuen Wirklichkeit entwerfen. Die Parolen und die Selbstzufriedenheit
der Linken sind kein Ersatz für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft
auf der Grundlage moralischer Werte. Das Scheitern des libanesischen Abenteuers
in diesem Sommer hätte einen Anfang bedeuten können. Doch das politische und
militärische Establishment zieht es vor, die Flucht nach vorn in den Krieg anzutreten.
* Beit Hanun ist ein Ort im nördlichen
Gaza-Streifen, in dem Anfang November 2006 18 Zivilisten durch israelische
Granaten getötet wurden.
Akiva Eldar ist Journalist bei der
Tageszeitung "Ha'aretz (Tel Aviv). Der Artikel erschien in Le Monde diplomatique
Nr. 8152 vom 15.12.2006, Seite 16-17, 372; aus dem Französischen von Edgar
Peinelt
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