Funktionäre empfehlen Verfassungsumgehung - Auf dem Weg zur «elitären Demokratie»? 25.11.2007 20:23
1999 haben Volk und Stände die nachgeführte Bundesverfassung gutgeheissen. Die politischen Rechte, insbesondere das Initiativ- und das Referendumsrecht, wurden darin in ihrer seit Jahrzehnten gültigen Form ausdrücklich bestätigt. Eine Volksinitiative muss demnach, bevor die Unterschriftensammlung gestartet werden kann, der Bundeskanzlei zur Kontrolle unterbreitet werden. Diese stellt fest, ob das Begehren die Formvorschriften für Volksinitiativen erfüllt. Der Inhalt des Begehrens wird nicht überprüft. Sind die mindestens hunderttausend Unterschriften innert der gesetzten Frist von achtzehn Monaten gesammelt, nimmt der Bundesrat zum Begehren Stellung. Er lässt die Initiative dabei auch juristisch überprüfen. Eine Initiative darf, so will es die Verfassung, sogenannt «zwingendem Völkerrecht» nicht widersprechen. Im Klartext: Eine Volksinitiative darf das Folterverbot, das Verbot des Völkermords sowie das Sklavereiverbot nicht verletzen. Der Bundesrat unterbreitet die Ergebnisse seiner Abklärungen dem Parlament. Dieses entscheidet definitiv und endgültig, ob eine Initiative gültig oder - wenn zwingendes Völkerrecht verletzt würde - ungültig ist. Ist sie gültig, wird sie dem Souverän zur Abstimmung unterbreitet.
Testobjekt Verwahrungsinitiative Genau dieses Verfahren wurde bezüglich der sogenannten
Verwahrungsinitiative, welche die lebenslange Verwahrung schwerer, nicht
therapierbarer Sexual- und Gewaltstraftäter verlangt, auch eingehalten. Indem
diese Initiative von der Bundesversammlung seinerzeit zur Abstimmung
freigegeben worden ist, wurde dem Volk auch die verbindliche Versicherung
übermittelt, die Volksinitiative sei völkerrechtskonform. Der Souverän könne
sie in aller demokratischen Freiheit gutheissen oder ablehnen. Zur Überraschung
insbesondere einiger oft publizierender «Kronjuristen» in unserem Land wurde
diese Initiative denn auch deutlich angenommen. Der Schutz der Gesellschaft und
insbesondere der Schutz der Kinder vor Gewalt- und Sexualstraftätern entpuppte
sich als ein Anliegen, das grossen Rückhalt in der Bevölkerung geniesst. Die
juristischen Vielschreiber aber gaben sich bestürzt: Man habe natürlich nie
damit gerechnet, dass das Volk eine «derart überrissene» Initiative annehmen
würde. Unter solcher Annahme hätte man dieses Volksbegehren als
völkerrechtswidrig erklärt. Und allen Ernstes wurde von Funktionären verlangt,
die Verwahrungsinitiative sei nachträglich für ungültig zu erklären. Oder sie
sei zumindest nicht umzusetzen, womit wenigstens ihre Anwendung unterbunden
würde. Sie widerspreche zwar kaum zwingendem Völkerrecht, wohl aber einigen
internationalen Konventionen, weshalb sie die Schweiz, wenn sie angewendet würde,
bei irgendwelchen internationalen Gremien in Schwierigkeiten bringen könnte. Den
von linken und halblinken Parlamentariern lancierten Antrag, die beschlossene
Initiative einfach nicht anzuwenden, lehnte der Nationalrat im vergangenen
September immerhin ab. Unmittelbar vor den eidgenössischen Wahlen wollte man
das Volk offensichtlich nicht allzu dreist vor den Kopf stossen.
Korrekturen am Initiativrecht Die Funktionäre gaben indessen nicht auf. Sie verlangen
jetzt ganz allgemein [vgl. Neue Zürcher
Zeitung vom 21. November 2007: «Zwischen Völkerrecht und Volkswillen»]
einen anderen Umgang mit Volksinitiativen. Die Bestimmung, wonach Initiativen
nur für ungültig erklärt werden dürfen, wenn sie
«zwingendem Völkerrecht» widersprächen, genüge nicht mehr. Zusätzlich müssten
gewisse Bestimmungen aus internationalen Konventionen dem Initiativrecht des
Schweizer Souveräns vorangestellt werden, womit diesem Initiativrecht enge,
international vorgegebene Zügel angelegt würden. Internationale Konventionen
müssten schweizerischem Recht in jedem Fall vorangestellt werden - auch dann,
wenn der Souverän über solch internationales Recht nie befinden können hätte.
Legale und illegale Verfassungsänderung Die Demokratie, insbesondere die direkte Demokratie, ist
jene Staatsform, die nicht bloss neue Vorschläge aus Bevölkerung und
Parlamenten aufzunehmen in der Lage ist. Sie gestattet zusätzlich auch die
Neubeurteilung einer jeden politischen Frage zu jedem Zeitpunkt. Jede
Staatsbürgerin, jeder Staatsbürger hat das Recht, mittels Volksinitiative eine
Änderung oder Neuformulierung bestehenden Verfassungsrechts vorzuschlagen. Und
jeder Parlamentarier kann gleiches mittels parlamentarischem Vorstoss auslösen.
Allerdings: Zuletzt entscheidet die Stimmbürgerschaft, der Souverän, ob ein
neuer Vorschlag angenommen oder zurückgewiesen wird. So funktioniert unsere
Demokratie. Das Recht, Änderungen am Gehalt der Verfassung vorzuschlagen,
Bestimmungen irgendwelcher internationaler Konventionen als dem Schweizer Recht
übergeordnet anzuerkennen, womit das Initiativrecht der Bürger entsprechend
eingeschränkt würde - solche Vorschläge dürfen selbstverständlich auch
Funktionäre und Juristen im Rahmen unserer direkten Demokratie vorbringen, sei
es durch einen von ihnen veranlassten parlamentarischen Vorstoss, sei es
mittels Volksinitiative. Aber auch für Funktionäre gilt: Darüber, ob eine
vorgeschlagene Verfassungsänderung angenommen oder abgelehnt wird, darüber
entscheidet schliesslich der Souverän, das Volk. Und zwar endgültig.
Verfassungs-Umgehung Den eher beschwerlichen, verfassungskonformen Weg wollen die
Funktionäre, denen das Schweizer Initiativrecht nicht mehr zu passen scheint,
allerdings nicht beschreiten. Sie fordern vielmehr, dass die Verfassung
durchaus in ihrer heutigen Form zu belassen sei. Man solle sie einfach anders
auslegen, anders anwenden. Sozusagen von einem Tag auf den andern sollen die
Erfordernisse für die Gültigkeit von Volksinitiativen drastisch ausgeweitet
werden. Ohne dass das Volk dazu befragt würde. Die Gültigkeitserfordernisse
würden so stark kompliziert, dass zwangsläufig spitzfindige Funktionäre
anstelle von Parlamentariern das letzte Wort erhielten, ob eine Initiative zur
Abstimmung zugelassen würde oder nicht. Die Staatspolitische Kommission des
Nationalrats muss sich in diesen Tagen mit diesem Funktionärsansinnen
auseinandersetzen, das - wie längst klar geworden ist - kurzfristig vor allem
die Abwürgung der Minarettverbots-Initiative anvisiert.
Funktionärsdünkel Die Funktionäre gehen von der Behauptung aus, die
juristische Beurteilung der Gültigkeits-Anforderungen von Initiativen sei «so
komplex» geworden, dass der gewöhnliche, der beschränkte, der einfältige Bürger
bei weitem überfordert sei, sich «unter Würdigung aller zu berücksichtigenden
Umstände» zu Fragen äussern zu müssen, die seinen Horizont überstiegen. Zumal
das «tumbe Volk» ohnehin unfähig sei, die «Tragweite internationaler
Konventionen sachgerecht einzuschätzen». Das erfordere besondere Kompetenz,
über die nur «besondere Fachleute mit dem erforderlichen Weitblick» verfügten. Unglaublich
die Arroganz, mit welcher Funktionärsbesserwisser sich anmassen, die Demokratie
korrigieren zu wollen. Es stellt sich die Frage, ob die Bevölkerung
rechtzeitig realisiert, wie gefährdet unsere Volksrechte sind und wie
skrupellos diese Volksrechte von Funktionären, die zwar noch zu Bern oder zu
Lausanne residieren, deren Denken indessen längst ganz auf Brüssel fixiert ist,
ausgehöhlt werden. Von Funktionären übrigens, die sich ihr meist nicht
unerhebliches Salär fast ausnahmslos vom Steuerzahler, vom Volk bezahlen
lassen. Wer von diesen Funktionären im Gegenzug einen «Dienst am Volk» erwarten
zu können glaubt, muss allmählich zur Kenntnis nehmen, dass sich diese
Funktionäre längst einer andern Prioritätenordnung unterstellt haben. Einer
Prioritätenordnung, der die direkte Demokratie im Wege steht, weil sie nicht
mehr anerkennen will, dass in unserem Land der mündige freie Bürger das letzte
Wort hat.
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