Funktionäre empfehlen Verfassungsumgehung - Auf dem Weg zur «elitären Demokratie»?

1999 haben Volk und Stände die nachgeführte Bundesverfassung gutgeheissen. Die politischen Rechte, insbesondere das Initiativ- und das Referendumsrecht, wurden darin in ihrer seit Jahrzehnten gültigen Form ausdrücklich bestätigt. Eine Volksinitiative muss demnach, bevor die Unterschriftensammlung gestartet werden kann, der Bundeskanzlei zur Kontrolle unterbreitet werden. Diese stellt fest, ob das Begehren die Formvorschriften für Volksinitiativen erfüllt. Der Inhalt des Begehrens wird nicht überprüft. Sind die mindestens hunderttausend Unterschriften innert der gesetzten Frist von achtzehn Monaten gesammelt, nimmt der Bundesrat zum Begehren Stellung. Er lässt die Initiative dabei auch juristisch überprüfen. Eine Initiative darf, so will es die Verfassung, sogenannt «zwingendem Völkerrecht» nicht widersprechen. Im Klartext: Eine Volksinitiative darf das Folterverbot, das Verbot des Völkermords sowie das Sklavereiverbot nicht verletzen. Der Bundesrat unterbreitet die Ergebnisse seiner Abklärungen dem Parlament. Dieses entscheidet definitiv und endgültig, ob eine Initiative gültig oder - wenn zwingendes Völkerrecht verletzt würde - ungültig ist. Ist sie gültig, wird sie dem Souverän zur Abstimmung unterbreitet.

Testobjekt Verwahrungsinitiative
Genau dieses Verfahren wurde bezüglich der sogenannten Verwahrungsinitiative, welche die lebenslange Verwahrung schwerer, nicht therapierbarer Sexual- und Gewaltstraftäter verlangt, auch eingehalten. Indem diese Initiative von der Bundesversammlung seinerzeit zur Abstimmung freigegeben worden ist, wurde dem Volk auch die verbindliche Versicherung übermittelt, die Volksinitiative sei völkerrechtskonform. Der Souverän könne sie in aller demokratischen Freiheit gutheissen oder ablehnen. Zur Überraschung insbesondere einiger oft publizierender «Kronjuristen» in unserem Land wurde diese Initiative denn auch deutlich angenommen. Der Schutz der Gesellschaft und insbesondere der Schutz der Kinder vor Gewalt- und Sexualstraftätern entpuppte sich als ein Anliegen, das grossen Rückhalt in der Bevölkerung geniesst. Die juristischen Vielschreiber aber gaben sich bestürzt: Man habe natürlich nie damit gerechnet, dass das Volk eine «derart überrissene» Initiative annehmen würde. Unter solcher Annahme hätte man dieses Volksbegehren als völkerrechtswidrig erklärt. Und allen Ernstes wurde von Funktionären verlangt, die Verwahrungsinitiative sei nachträglich für ungültig zu erklären. Oder sie sei zumindest nicht umzusetzen, womit wenigstens ihre Anwendung unterbunden würde. Sie widerspreche zwar kaum zwingendem Völkerrecht, wohl aber einigen internationalen Konventionen, weshalb sie die Schweiz, wenn sie angewendet würde, bei irgendwelchen internationalen Gremien in Schwierigkeiten bringen könnte. Den von linken und halblinken Parlamentariern lancierten Antrag, die beschlossene Initiative einfach nicht anzuwenden, lehnte der Nationalrat im vergangenen September immerhin ab. Unmittelbar vor den eidgenössischen Wahlen wollte man das Volk offensichtlich nicht allzu dreist vor den Kopf stossen.

Korrekturen am Initiativrecht
Die Funktionäre gaben indessen nicht auf. Sie verlangen jetzt ganz allgemein [vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 21. November 2007: «Zwischen Völkerrecht und Volkswillen»] einen anderen Umgang mit Volksinitiativen. Die Bestimmung, wonach Initiativen nur für ungültig erklärt werden dürfen, wenn sie «zwingendem Völkerrecht» widersprächen, genüge nicht mehr. Zusätzlich müssten gewisse Bestimmungen aus internationalen Konventionen dem Initiativrecht des Schweizer Souveräns vorangestellt werden, womit diesem Initiativrecht enge, international vorgegebene Zügel angelegt würden. Internationale Konventionen müssten schweizerischem Recht in jedem Fall vorangestellt werden - auch dann, wenn der Souverän über solch internationales Recht nie befinden können hätte.

Legale und illegale Verfassungsänderung
Die Demokratie, insbesondere die direkte Demokratie, ist jene Staatsform, die nicht bloss neue Vorschläge aus Bevölkerung und Parlamenten aufzunehmen in der Lage ist. Sie gestattet zusätzlich auch die Neubeurteilung einer jeden politischen Frage zu jedem Zeitpunkt. Jede Staatsbürgerin, jeder Staatsbürger hat das Recht, mittels Volksinitiative eine Änderung oder Neuformulierung bestehenden Verfassungsrechts vorzuschlagen. Und jeder Parlamentarier kann gleiches mittels parlamentarischem Vorstoss auslösen. Allerdings: Zuletzt entscheidet die Stimmbürgerschaft, der Souverän, ob ein neuer Vorschlag angenommen oder zurückgewiesen wird. So funktioniert unsere Demokratie. Das Recht, Änderungen am Gehalt der Verfassung vorzuschlagen, Bestimmungen irgendwelcher internationaler Konventionen als dem Schweizer Recht übergeordnet anzuerkennen, womit das Initiativrecht der Bürger entsprechend eingeschränkt würde - solche Vorschläge dürfen selbstverständlich auch Funktionäre und Juristen im Rahmen unserer direkten Demokratie vorbringen, sei es durch einen von ihnen veranlassten parlamentarischen Vorstoss, sei es mittels Volksinitiative. Aber auch für Funktionäre gilt: Darüber, ob eine vorgeschlagene Verfassungsänderung angenommen oder abgelehnt wird, darüber entscheidet schliesslich der Souverän, das Volk. Und zwar endgültig.

Verfassungs-Umgehung
Den eher beschwerlichen, verfassungskonformen Weg wollen die Funktionäre, denen das Schweizer Initiativrecht nicht mehr zu passen scheint, allerdings nicht beschreiten. Sie fordern vielmehr, dass die Verfassung durchaus in ihrer heutigen Form zu belassen sei. Man solle sie einfach anders auslegen, anders anwenden. Sozusagen von einem Tag auf den andern sollen die Erfordernisse für die Gültigkeit von Volksinitiativen drastisch ausgeweitet werden. Ohne dass das Volk dazu befragt würde. Die Gültigkeitserfordernisse würden so stark kompliziert, dass zwangsläufig spitzfindige Funktionäre anstelle von Parlamentariern das letzte Wort erhielten, ob eine Initiative zur Abstimmung zugelassen würde oder nicht. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats muss sich in diesen Tagen mit diesem Funktionärsansinnen auseinandersetzen, das - wie längst klar geworden ist - kurzfristig vor allem die Abwürgung der Minarettverbots-Initiative anvisiert.

Funktionärsdünkel
Die Funktionäre gehen von der Behauptung aus, die juristische Beurteilung der Gültigkeits-Anforderungen von Initiativen sei «so komplex» geworden, dass der gewöhnliche, der beschränkte, der einfältige Bürger bei weitem überfordert sei, sich «unter Würdigung aller zu berücksichtigenden Umstände» zu Fragen äussern zu müssen, die seinen Horizont überstiegen. Zumal das «tumbe Volk» ohnehin unfähig sei, die «Tragweite internationaler Konventionen sachgerecht einzuschätzen». Das erfordere besondere Kompetenz, über die nur «besondere Fachleute mit dem erforderlichen Weitblick» verfügten. Unglaublich die Arroganz, mit welcher Funktionärsbesserwisser sich anmassen, die Demokratie korrigieren zu wollen. Es stellt sich die Frage, ob die Bevölkerung rechtzeitig realisiert, wie gefährdet unsere Volksrechte sind und wie skrupellos diese Volksrechte von Funktionären, die zwar noch zu Bern oder zu Lausanne residieren, deren Denken indessen längst ganz auf Brüssel fixiert ist, ausgehöhlt werden. Von Funktionären übrigens, die sich ihr meist nicht unerhebliches Salär fast ausnahmslos vom Steuerzahler, vom Volk bezahlen lassen. Wer von diesen Funktionären im Gegenzug einen «Dienst am Volk» erwarten zu können glaubt, muss allmählich zur Kenntnis nehmen, dass sich diese Funktionäre längst einer andern Prioritätenordnung unterstellt haben. Einer Prioritätenordnung, der die direkte Demokratie im Wege steht, weil sie nicht mehr anerkennen will, dass in unserem Land der mündige freie Bürger das letzte Wort hat.