Kasachstan 16.01.2022 19:57
d.a. Inzwischen haben die Verteidigungsminister der Teilnehmerstaaten der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit »OVKS«
ihre nach den gewaltsamen Unruhen in Kasachstan durchgeführte Friedensmission am 13. Januar für beendet erklärt, so dass der Abzug ihrer Truppen aus der früheren Sowjetrepublik noch am selben Tag einsetzte; die Polizei hatte die Strassen in Almaty bereits am 6. Januar von Demonstranten geräumt. Wie
einem Interview mit Anna Sedowa zu entnehmen ist, hatte das Innenministerium
gleichzeitig erklärt, dass »alle Massnahmen ergriffen würden,
um Zuwiderhandelnde festzunehmen«, was dazu führte, dass
etwa 2.000 Personen in Polizeigewahrsam genommen wurden. Zur gleichen Zeit fielen
dann gegen 16 Uhr Schüsse auf dem Platz der Republik im Zentrum der Stadt. Das
russische Aussenministerium hatte in einer offiziellen Erklärung hierzu verlauten
lassen, dass die Russische Föderation die Proteste in Kasachstan, die am 2.
Januar begonnen hatten, als einen Versuch betrachtete, die Sicherheit und
Integrität des Staates mit gewaltsamen Mitteln zu untergraben, indem ausgebildete,
von aussen inspirierte, organisierte bewaffnete Einheiten eingesetzt wurden.
Obwohl
in der Erklärung nicht genau angegeben wird, wie die Proteste ›von aussen‹ angestiftet wurden, scheint es, dass die
USA im Zusammenhang mit den Farbenrevolutionen in der ehemaligen Sowjetunion und
darüber hinaus der offensichtlichste Kandidat für diese ist. Hingegen hatte Washington
selbst einen Tag vor der Erklärung des russischen Aussenministeriums jede
Andeutung über seine Beteiligung an den kasachischen Vorfällen zurückgewiesen.
Die Pressesprecherin des Weissen Hauses, Jennifer Psaki, bezeichnete solche
Anschuldigungen als ›verrückt und
falsch‹:»Wir
haben eine Reihe von verrückten russischen Behauptungen gehört, dass die Vereinigten
Staaten dahinter stecken. Bei dieser Gelegenheit möchte ich betonen, dass sie
völlig falsch und Teil der üblichen russischen Desinformationsanweisungen sind»,
sagte sie. Gleichzeitig rief sie die Demonstranten dazu auf, ihre Forderungen
friedlich vorzubringen und die Behörden zur Zurückhaltung aufzufordern. Dennoch
hatten einige Experten die Proteste in Kasachstan bereits mit den Gesprächen in
Genf über Sicherheitsgarantien zwischen den USA und Russland in Verbindung gebracht.
Sedowa
führt die Ansicht des belarussischen Politologen Alexander Shapkovsky an,
demzufolge »die Amerikaner im Vorfeld der Gespräche
zwischen Putin und Biden den ersten Schlag in Russlands zentral asiatischen
Unterbauch geführt haben und damit versuchten, entweder Kräfte und Gelder von
der ukrainischen Seite abzulenken oder die russischen Kräfte so weit wie
möglich zu zerstreuen». Der Vorsitzende der KPRF, Gennadi Sjuganow, schrieb auf
seinem Telegramm-Kanal, dass »die Unruhen in
Kasachstan zwar von der Regierung, die die Gaspreise verdoppelt hatte, selbst
provoziert wurden, dass sie aber ›aktiv‹ von Kräften genutzt werden, die Russland
einen hybriden Krieg erklärt haben«. »Dieses Mal«, so Sjuganow ferner, »versuchen sie, Kasachstan, das reich an natürlichen
Ressourcen ist und die längste Grenze, mehr als 7.500 km, mit unserem Land hat,
zu übernehmen. Es ist wichtig zu verstehen, dass es ohne enge sozioökonomische
und politisch-diplomatische Beziehungen zu den GUS-Staaten keinen Frieden in
unseren Breitengraden geben wird. Wir sind von der NATO von allen Seiten
umzingelt. Der kollektive Westen wird alles tun, um die Lage an den russischen
Grenzen zu destabilisieren«.
Eine ähnliche Meinung wird in der Ukraine geäussert, wo man die ›farbigen Revolutionen‹ aus erster Hand kennt. »Kaum jemand«, schrieb der bekannte ukrainische Politologe Michail Pogrebinskij, »würde bestreiten, dass der Ausbruch in Kasachstan
genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgte, nämlich mitten in der Verschärfung der
Beziehungen zwischen Russland und dem Westen; er ist also aus mindestens drei
Gründen für die Amerikaner von Vorteil. Erstens, um die Aufmerksamkeit Moskaus
vom Donbass auf seinen OVKS-Partner zu lenken, zweitens, vermutlich, um die
Beziehungen zwischen Moskau und Peking zu verschlechtern. Drittens, sollte
letzteres gelingen, würde Moskau zu einem harten Durchgreifen provoziert, was
für Moskau auf Jahre hinaus ziemlich vorhersehbare Folgen hätte. Und schliesslich
kann ich als Zeuge zweier Maidans nicht an die Spontaneität der kasachischen
Proteste glauben. Warum sonst füttern sie seit einem Vierteljahrhundert
Tausende von NGOs?«.
Michail
Alexandrow, ein führender Experte des Zentrums für militärische und politische
Studien des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen, ist
der Meinung, dass der Einfluss der USA auf die derzeitige Eskalation begrenzt
ist, wenngleich er nicht ohne ist: »Vor
einigen Monaten habe ich gesagt, dass
eine drastische Verschlechterung der Lage in Kasachstan und der Beginn eines Clankriegs - Zhuz, Stammesverbände der kasachischen Stämme
- möglich sei. Obwohl sich die Kasachen
als eine einzige Nation betrachten, gibt es bei ihnen noch immer eine starke
Trennung, die auf dem Zhuz-Prinzip beruht. Dabei handelt es sich um Verwandtschafts-
und Blutsbande, und auch innerhalb der Zhuzes gibt es einzelne Clans. Jetzt
gibt es in Kasachstan einen Machtwechsel. Die Macht von Nursultan Nasarbajew
ist geschwächt. Als er selbst als vollwertiger Führer an der Macht war und sich
in guter Verfassung befand, gelang es ihm, die Beziehungen zwischen den
verschiedenen Clan-Gruppen auszugleichen. Aber jetzt, wo er geschwächt ist,
steht sein Clan auf der Kippe und zieht den Hass aller in Kasachstan auf sich,
weil er alles unter seine Fittiche nimmt.
Der zweite Punkt, so Sedowa
des weiteren, ist der, dass all dies vor dem Hintergrund einer sich
verschlechternden allgemeinen Wirtschaftslage und des Coronavirus geschieht. Letztlich
ist sie das Ergebnis einer ethnokratischen, weitgehend antirussischen Politik,
die von den kasachischen Behörden und Nasarbajew selbst seit vielen Jahren
verfolgt worden ist. Viele Russen sind bereits abgereist, die übrigen denken
darüber nach, wie sie es tun können; sie sind an den Angelegenheiten
Kasachstans nicht sehr interessiert. Und doch spielten die Russen in diesem
Land eine stabilisierende Rolle, indem sie die Widersprüche zwischen den Clans
ausglichen und als neutrale Kraft auftraten. Wenn Nasarbajew niemanden hatte,
den er für ein Amt ernennen konnte, konnte er einen Russen ernennen, und das
Problem schien gelöst zu sein. Aber Nasarbajew wandte einen üblen Trick an: Er
hetzte Kasachen gegen Russen auf, um Komplikationen zu vermeiden. Seiner
Meinung nach hätte dies das verstreute Kasachstan vereinen sollen. Aber das
Ergebnis war, dass die Russen abreisten und sich die Meinung in Russland
selbst, zumindest in der Bevölkerung, über Kasachstan verschlechterte. Jetzt baten
sie die OVKS um Hilfe, weil sie leben wollen.
Auf die an Anna
Sedowa gerichtete Frage, ob sie der Meinung sei, dass der Protest von aussen
inspiriert wurde, erklärt sie, dass sie selbst sagen würde, dass es vor allem
eine interne Destabilisierung gab. Was die Rolle der USA anbelangt, so
bereiteten diese verschiedene Aktivisten vor, die zu diesem Zeitpunkt als
Brandbeschleuniger des Protests fungieren konnten. Die Tatsache, dass die
Verschärfung jetzt und nicht im Dezember oder Februar eingetreten ist, könnte
tatsächlich mit den Gesprächen zwischen den USA und Russland zusammenhängen.
Aber wenn es diesen inneren Widerspruch in den Menschen nicht gegeben hätte,
hätte kein amerikanischer Aktivist etwas tun können. Die Aktivisten bereiten
die Menschen auf Massendemonstrationen und gewalttätige Aktionen vor, um die
Polizei zu konfrontieren. Doch was in Almaty geschah, die Beschlagnahmung von
Krankenhäusern, Enthauptungen, Geiselnahmen, ähnelt Medienberichten zufolge eher
den Aktionen des islamischen Untergrunds. Dies übersteigt bereits den Rahmen
dessen, was von amerikanischen Ausbildern gelehrt wird. Obwohl wir solche Dinge
in Tschetschenien gesehen haben, scheint es mir, dass die Inbesitznahme eines
Krankenhauses in Budjonnowsk die Initiative lokaler Terroristen
und nicht von CIA-Ausbildern war.
Es ist gut, dass die
OVKS-Truppen jetzt ins Land geholt wurden. Die kasachische Führung hat
beschlossen, dass es wichtiger ist, die Situation unter Kontrolle zu halten,
als alles zu verlieren. Aber Russland muss die Situation nutzen, um Druck auf
die kasachischen Behörden auszuüben, damit diese ihre antirussische Politik und
die Verfolgung der russischen Sprache einstellen. Den Bezirken mit russischer
Bevölkerungsmehrheit muss eine weitgehende Autonomie eingeräumt werden [in
diesen Bezirken ist es übrigens zu keinen ernsthaften Unruhen gekommen]. Um dies zu
erreichen, ist eine Reform der Regionalverwaltung erforderlich. Die russische
Bevölkerung sollte nicht zur Geisel eines Clan-Kriegs gemacht werden.
Konstantin Blokhin, ein führender Wissenschaftler am Zentrum für
Sicherheitsstudien der Russischen Akademie der Wissenschaften, ist seinerseits der
Ansicht, dass die Verschärfung der Spannungen in Kasachstan im Interesse der
Vereinigten Staaten liegt und dass die Amerikaner, ob von Washington inspiriert
oder nicht, nicht zögern werden, die Situation zu nutzen.
Auf die an Sedowa abschliessend
gestellte Frage, ob die Spannungen im Einklang mit den Interessen der USA stehen,
sagte auch sie: Ich glaube, das ist es. Wir haben die Ukraine, wir haben den
Versuch der Destabilisierung in Belarus, wir haben Armenien-Aserbaidschan, wir
haben wachsende Spannungen in Zentralasien und jetzt haben wir Unruhen in
Kasachstan. Solche Spannungsherde in der Nähe unserer Grenzen liegen sicherlich
im Interesse der Vereinigten Staaten. Je mehr davon, desto mehr wird Russland
seine Ressourcen für die Lösung dieser Probleme aufwenden und nicht für den
Wiederaufbau und die Stärkung seiner eigenen Wirtschaft. Dies ist Teil der
globalen Strategie der USA. Bereits 1992 formulierte
US-Verteidigungsstaatssekretär Paul Wolfowitz die sogenannten Leitlinien für
die Verteidigungsplanung, die als ›Wolfowitz-Doktrin‹ bekannt wurden. Lange vor den
Ereignissen auf der Krim wurde klar und deutlich erklärt, dass das Ziel der
amerikanischen Aussenpolitik nach dem Zusammenbruch der UdSSR darin bestand,
die Entstehung eines Staates oder einer Koalition von Staaten im postsowjetischen
Raum, die in der Lage wären, die Führungsrolle der USA in der Welt in Frage zu
stellen, zu verhindern. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann die
gesamte amerikanische Elite diese Hauptpriorität in die Tat umzusetzen. Ob
Washington bei der Organisation der Unruhen in Kasachstan eine Rolle gespielt
hat oder an ihnen beteiligt war, bedarf einer genaueren Untersuchung.
Aber es ist klar, dass Kasachstan eine riesige Schatztruhe an natürlichen
Ressourcen ist, ein Magnet für verschiedene Akteure, einschliesslich der
Vereinigten Staaten. Ihr Ziel ist ein pro-amerikanisches Kasachstan, das
zwischen Russland und China liegt. Die Interessen der USA sind also klar, aber
die Zeit wird zeigen, wie gross ihre Rolle bei den Geschehnissen ist. [1]
Am 7. Januar hatte
dann Kasachstans Staatspräsident Kassym-Schomart Tokajew der Polizei und dem Militär
den Schiessbefehl erteilt, um die Ausschreitungen im Land zu beenden. »Es kann
keine Verhandlungen mit Kriminellen und Mördern geben«, machte er in einer
Fernsehansprache klar. [2] Neuer Regierungschef ist seit 7. 1.
der vom Parlament gewählte Alichan Smajilow, der den Posten schon nach der
Entlassung der alten Regierung übergangsweise
inne hatte.
Die
USA und eine mögliche Destabilisierung des Landes
Die
meisten Menschen in Europa, schrieb Markus Gärtner bereits im Dezember 2014,
haben keine Vorstellung oder Kenntnisse von den Ländern in Zentralasien, von Kasachstan,
Tadschikistan, Usbekistan. Doch auf dem streng geheimen geostrategischen
Schachbrett der NATO hat dieser Teil der Welt – wie die gesamte Region Eurasien – eine kaum zu übertreffende Bedeutung. [3]
So heisst es denn auch am 6. 1. auch auf ›anti-spiegel‹, dass sich die Anzeichen verdichten, dass es
sich bei den Unruhen in Kasachstan um eine weitere vom Westen orchestrierte Farbenrevolution
handelt; das erklärte Ziel der Politik der USA ist es, Russland zu isolieren.
Das gilt vor allem für die Beziehungen zu Russlands Nachbarn und Verbündeten.
Kasachstan ist beides: Russlands Nachbar und ein enger politischer Freund sowie
im Rahmen der OVKS Russlands Verbündeter. Für die USA wäre es wie ein
Lottogewinn, wenn sie Kasachstan auf ihre Seite ziehen und so einen [geografischen] Keil
zwischen Russland und China treiben
könnten, von einer mittelfristigen Perspektive, dort US-Militärbasen aufzubauen,
ganz zu schweigen. Die Vereinigten Staaten – und damit auch ihre europäischen
Satellitenstaaten – haben also allen
Grund, sich einen Regimewechsel in Kasachstan zu wünschen. Der Grund für die
Proteste in Kasachstan war bekanntlich die Aufhebung der staatlichen
Subventionen für Gas. Aber obwohl die Subventionen nach Beginn der Proteste
wieder eingeführt wurden und die Regierung sogar entlassen wurde, beruhigten sich
die Proteste nicht, sondern sie
eskalierten. Dass die Proteste nicht einfach Proteste unzufriedener Bürger sind,
zeigen die Bilder: Die Demonstranten gehen brutal vor und seit Beginn der
Proteste sind explizit Polizisten und Soldaten angegriffen worden. Bis zum
Abend des 6. Januar wurden 18 Sicherheitskräfte von den Demonstranten getötet und
748 verletzt. Die Demonstranten stürmten auch Regierungsgebäude, darunter auch
Waffenlager der Sicherheitskräfte, und bewaffneten sich. Es handelt sich also
um bürgerkriegsähnliche Zustände, bei denen gezielt Polizisten und Soldaten
angegriffen werden, aber eben
nicht um friedliche Proteste. [4]
Ein Maidan in Almaty?
fragt Pepe Escobar in seinem Artikel ›Die Steppe brennt: Kasachstans Farbrevolution‹. Oh ja. Aber es ist kompliziert. Geht es bei soviel Angst und
Hass also nur ums Gas? Nicht wirklich. [5]
Kasachstan wurde, wie
bereits vermerkt, wegen der Verdoppelung der Preise für Flüssiggas praktisch
über Nacht ins Chaos gestürzt, wobei die Zentralregierung gezwungen wurde, den Gaspreis auf umgerechnet
8 Rubel pro Liter zu senken. Doch das war nur der Auslöser für die nächste
Phase der Proteste, in der niedrigere Lebensmittelpreise, ein Ende der
Impfkampagne, ein niedrigeres Renteneintrittsalter für kinderreiche Mütter und
– last but not least – ein Regimewechsel gefordert wurden, dies mit einem
eigenen Slogan: Shal, ket! ›Nieder
mit dem alten Mann‹. Bei dem ›alten Mann‹ handelt es sich um keinen Geringeren als den 81-jährigen Staatschef
Nursultan Nasarbajew, der jedoch auch nach seinem Rücktritt nach 29 Jahren an
der Macht praktisch immer noch die graue Eminenz Kasachstans ist, die den
Sicherheitsrat leitet und über die Innen- und Aussenpolitik entscheidet. Die
Aussicht auf eine weitere Farbenrevolution drängt sich unweigerlich auf: Vielleicht
Türkis-Gelb in Anlehnung an die Farben der kasachischen Nationalflagge, zumal
aufmerksame Beobachter herausfanden, dass die üblichen Verdächtigen, die
amerikanische Botschaft, bereits am 16. Dezember 2021 vor Massenprotesten ›warnten‹.
Für die Aussenwelt ist es schwer zu verstehen, warum eine grosse Energieexportmacht
wie Kasachstan die Gaspreise für die eigene Bevölkerung erhöhen muss. Der Grund
dafür ist – wie sollte es auch anders
sein – der ungezügelte Neoliberalismus
und die sprichwörtlichen Spielereien des freien Marktes. Seit 2019 wird
Flüssiggas in Kasachstan elektronisch gehandelt. So wurde die Einhaltung von
Preisobergrenzen, eine jahrzehntelange Gewohnheit, bald unmöglich, da die
Produzenten ständig damit konfrontiert waren, ihr Produkt unter den Kosten zu
verkaufen, während der Verbrauch in die Höhe schnellte. Jeder in Kasachstan
rechnete mit einer Preiserhöhung, da in Kasachstan jeder Flüssiggas verwendet,
insbesondere für die umgebauten Autos. Es ist ziemlich bezeichnend, dass die
Proteste in der Stadt Zhanaozen begannen, direkt in der Öl- und Gasdrehscheibe
Mangystau. Und es ist auch bezeichnend, dass sich die Unruhen sofort dem
autoverwöhnten Almaty zuwendeten, dem eigentlichen Wirtschaftszentrum des Landes,
und nicht der isolierten, von der Regierung mit viel Infrastruktur ausgestatteten
Hauptstadt inmitten der Steppe. Doch weder die Wiedereinführung der
Preisobergrenze, noch der Rücktritt der amtierenden Regierung und die Ernennung
Alikhan Smailow, eines gesichtslosen stellvertretenden Ministerpräsidenten zum
Interimspremierminister, bis zur Bildung eines neuen Kabinetts, konnten die Unruhen
eindämmen. In blitzschneller Folge stürmten die Demonstranten das Akimat, das Büro
des Bürgermeisters in Almaty, schossen auf die Armee, demolierten ein
Nasarbajew-Denkmal in Taldykorgan, übernahmen seine ehemalige Residenz in
Almaty und trennten Kazakhtelecom im ganzen Land vom Internet; daneben schlossen
sich mehrere Mitglieder der Nationalgarde – einschliesslich gepanzerter
Fahrzeuge – den Demonstranten in Aktau an. Und die Geldautomaten fielen aus.
Wie konnte das alles so schnell entgleisen? Bislang war das
Nachfolgerspiel in Kasachstan vor allem als ein Hit in ganz Nordeurasien
angesehen worden. Lokale Honoratioren, Oligarchen und die Kompradoren-Eliten
behielten alle ihre Lehen und Einkommensquellen. Inoffiziell, so Escobar, wurde
mir jedoch Ende 2019 in Nur-Sultan gesagt, dass es zu ernsthaften Problemen
kommen würde, wenn einige regionale Clans zur Kasse gebeten würden – wie bei
der Konfrontation mit Nasarbajew und dem von ihm eingeführten System. Es
handelte sich nicht um ein klassisches Regimewechsel-Szenario – zumindest
anfangs nicht. Die Konstellation war ein fliessender, amorpher Zustand des
Chaos, da die zerbrechlichen kasachischen Machtinstitutionen einfach nicht in
der Lage waren, das allgemeine soziale Unbehagen zu begreifen. Eine kompetente
politische Opposition gibt es nicht: Es gibt keinen politischen Austausch. Die
Zivilgesellschaft hat keine Kanäle, um sich zu äussern. Was noch nicht ganz
klar ist, ist die Frage, welche widerstreitenden Clans die Proteste anheizen –
und was ihre Agenda ist, falls sie eine Chance haben sollten, an die Macht zu
gelangen. Schliesslich können ›spontanen‹ Proteste nicht praktisch über Nacht überall in diesem riesigen Land
gleichzeitig auftauchen.
Die von China vorangetriebene Neue Seidenstrasse, die New Silk Road ›BRI‹, wurde im September 2013 von Xi
Jinping an der Nasarbajew-Universität offiziell ins Leben gerufen. Dies geschah
in enger Anlehnung an das kasachische Konzept der eurasischen Wirtschaftsintegration,
das wiederum in Anlehnung an Nasarbajews eigenes staatliches Ausgabenprojekt ›Nurly Zhol‹, ›Heller Weg‹, entwickelt wurde, um die Wirtschaft nach der Finanzkrise 2008/9
anzukurbeln. Im September 2015 stimmte
Nasarbajew in Peking sein ›Nurly Zhol‹ mit der ›BRI‹ ab und rückte Kasachstan damit de facto in den Mittelpunkt der neuen
eurasischen Integrationsordnung. Geostrategisch gesehen wurde der grösste
Binnenstaat der Erde zum wichtigsten Schnittpunkt der chinesischen und russischen Visionen, der ›BRI‹ und der Eurasischen Wirtschaftsunion ›EAEU‹. Für Russland ist Kasachstan von noch grösserer strategischer Bedeutung
als für China. Beide Länder unterhalten massive militärisch-technische
Beziehungen und arbeiten in Baikonur strategisch im Weltraum zusammen. Russisch
hat den Status einer Amtssprache und wird von 51 % der Bürger der Republik gesprochen.
Mindestens 3,5 Millionen Russen leben in Kasachstan. Es ist noch zu früh, um
über eine mögliche ›Revolution‹ in den Farben der nationalen Befreiung zu spekulieren, sollte das alte
System schliesslich zusammenbrechen. Und selbst wenn es dazu käme, wird Moskau
niemals seinen gesamten beträchtlichen politischen Einfluss verlieren. Das
unmittelbare Problem besteht also darin, die Stabilität Kasachstans zu
gewährleisten. Die Proteste müssen zerstreut werden. Es wird viele wirtschaftliche
Zugeständnisse geben. Ein dauerhaftes destabilisierendes Chaos kann einfach
nicht toleriert werden, und Moskau weiss das ganz genau. Ein weiterer schlingernder
Maidan kommt nicht in Frage.
In einer
Analyse auf Russisch, hält der Bericht von Escobar fest, werden einige wichtige
Punkte erwähnt: »Das Internet ist voll von vorbereiteten Propagandaplakaten und
Memos an die Rebellen« und die Angabe, »dass die Behörden nicht aufräumen, wie
es Lukaschenko in Belarus getan hat«. Die Slogans scheinen aus einer Vielzahl
von Quellen zu stammen, von einem ›westlichen
Weg‹ nach Kasachstan bis hin zur Scharia:
»Es gibt noch kein einziges Ziel, es ist noch nicht identifiziert worden. Das
Ergebnis wird später kommen. Es ist in der Regel das gleiche. Die Beseitigung
der Souveränität, die externe Verwaltung und schliesslich, in der Regel, die
Gründung einer antirussischen politischen Partei«. Putin, Lukaschenko und
Tokajew führten auf Initiative Lukaschenkos ein langes Telefonat. Die Führer
aller OVKS-Mitglieder stehen in engem Kontakt. Ein Masterplan wie bei einer
massiven ›Anti-Terror-Operation‹ wurde bereits ausgearbeitet. General
Gerasimow wird das persönlich überwachen«.
Vergleicht man dies
nun mit dem, was ich von zwei verschiedenen hochrangigen Geheimdienstquellen
erfahren habe, so ergibt sich, dass das ganze kasachische Abenteuer eindeutig vom
MI6 gesponsert wird, um unmittelbar vor den Gesprächen zwischen Russland, den USA und der
NATO einen neuen Maidan zu schaffen, um jede Art von Abkommen zu verhindern.
Was den britischen
Auslandsgeheimdienst MI6 betrifft, sei hier eingefügt, dass sich sowohl die Muslimbruderschaft als auch
die Befreiungspartei ›Hizb ut-Tahrir‹ mit Hilfe des britischen MI6 in ganz
Zentralasien entwickelt haben. Um diesen Separatismus zu bekämpfen, wurde übrigens
die ›Shanghai Cooperation Organization‹ gegründet.
Bezeichnenderweise, führt Escobar abschliessend aus, haben die ›Rebellen‹ ihre nationale Koordination auch nach der Abschaltung des
Internets beibehalten. Die üblichen Verdächtigen versuchen, Russland zum
Rückzug gegen den kollektiven Westen zu zwingen, indem sie an der Ostfront ein
grosses Ablenkungsmanöver starten, das Teil einer fortlaufenden Strategie des
Chaos entlang der russischen Grenzen ist. Das mag ein geschicktes
Ablenkungsmanöver sein, aber der russische Geheimdienst beobachtet es genau.
Sehr genau. Und um der üblichen Verdächtigen willen darf dies besser nicht unheilvoll
als Kriegsprovokation interpretiert werden.
Washington setzt den RAND-Plan in Kasachstan fort
schreibt Thierry
Meyssan. [6] Die
sich in Kasachstan abspielenden Ereignisse sind der 5. Teil eines Plans der
RAND Corporation, von denen der 6. in Transnistrien stattfinden wird. Die
vorherigen Episoden fanden in den letzten zwei Jahren in der Ukraine, in
Syrien, in Weissrussland und in Berg-Karabach statt. Es geht darum, Russland zu
schwächen, indem man es zu einem überzogenen Truppenaufmarsch zwingt.
Während des Telefongesprächs
Bidens mit Putin am 30. Dezember 2021 hatte Putin den Vorschlag unterbreitet,
einen Vertrag auszuarbeiten, der den Frieden auf der Grundlage der
gewissenhaften Einhaltung der UN-Charta und des gegebenen Wortes garantiere. Es
überrascht nicht, so Meyssan, dass Biden nicht auf den Inhalt der russischen
Anfrage reagierte und lediglich einen möglichen Stopp der US-Operationen in der
Ukraine erwähnte. Gleichzeitig entfesselte der Nationale Sicherheitsrat der USA
mehrere Aktionen gegen Russland. Es geht nicht darum, Regierungen zu stürzen
oder neue Kriege zu beginnen, sondern Moskau zu zwingen, ausserhalb seiner
Grenzen so zu intervenieren, damit es sich selbst schwächt. Die
Russische Föderation hat bereits ein gigantisches Territorium, das sie mit einer
Bevölkerung von nur 150 Millionen nicht voll bewirtschaften kann.
Im Mai 2019 hatte die
RAND-Corporation, der Think Tank des militärisch-industriellen Komplexes der
USA, diesbezüglich sechs Optionen aufgelistet:
1. Bewaffnung der Ukraine
2. Die Unterstützung für Dschihadisten
in Syrien zu erhöhen
3. Die Förderung eines Regimewechsels in
Belarus
4. Die Spannungen im Südkaukasus
auszunutzen
5. Reduzierung des russischen Einflusses
in Zentralasien
6. Mit der russischen Präsenz in
Transnistrien wettstreiten
Die Vizestaatssekretärin
für politische Angelegenheiten, Victoria Nuland, war vom 11. bis 13. 10. 21 nach Moskau gereist, um
sich mit der russischen Regierung zu treffen. Letztere hob ausnahmsweise das
für sie in Russland geltende Reiseverbot auf. Frau Nuland ist in der Tat keine
gewöhnliche Beamtin. Sie ist eine US-amerikanische Deep State-Figur, die an
allen Regierungen teilnimmt, ob Republikaner oder Demokraten, mit Ausnahme der
Jacksonischen Regierung von Präsident Donald Trump. Sie war es, die 2001 die
Alliierten für den Kampf in Afghanistan aufrief, trotz des Widerstands des
französischen Präsidenten Jacques Chirac und des deutschen Bundeskanzlers
Gerhard Schröder; sie war es, die Israel am Ende des Krieges gegen den Libanon
2006 rettete und einen einseitigen Waffenstillstand organisierte, um die
Demütigung einer militärischen Niederlage zu vermeiden. Und erneut war sie es,
die 2014 die Maidan-Farbenrevolution organisierte, um den ukrainischen
Präsidenten Viktor Janukowitsch zu stürzen und ihn durch Nazis zu ersetzen. Während
der Farbenrevolution in der Ukraine verteilte Nuland Sandwiches und Getränke an
die Neonazis auf dem Maidan-Platz. Man konnte damals die Verachtung sehen, die
sie den Europäern entgegenbringt, was in Brüssel für Unbehagen sorgt und die
Sanktionen Moskaus auslöst.
Frau Nuland gehört einer illustren neokonservativen Familie an. Ihr Ehemann ist
kein geringerer als Robert Kagan, einer
der Gründer des ›Projekts für ein
neues amerikanisches Jahrhundert‹ [›Project
for a New American Century‹ ›PNAC‹], der die Mittel für den
Aufstieg von George W. Bush ins Weisse Haus aufbrachte und sich ›ein neues Pearl Harbor‹ wünschte, das die Anschläge vom 11.
September Wirklichkeit werden liess. Ihr Schwager Frederick Kagan ist eine
Pfeiler des ›American Enterprise
Institute. Er war der Schöpfer der US-Politik für die Besetzung Afghanistans
und des Iraks. Ihre Schwägerin, Kimberly Kagan, ist Präsidentin des ›Institute for the Study of War‹. Sie spielte eine führende Rolle in
allen Kriegen des ›erweiterten Nahen
Ostens‹, insbesondere in der Politik
der Verstärkung im Irak. Victoria Nuland hat im übrigen ihre Umgangsart mit
Russland in einem provokanten Artikel in ›Foreign
Affairs‹ im Juli 2020 mit dem Titel ›Putin festnageln‹ [7] erläutert.
Die neokonservative Autorin arbeitete ehemals für die vormalige demokratische
Aussenministerin Madeleine Albright und skizzierte, was der nächste Präsident
gegenüber Moskau tun sollte. Nachdem sie ein Russland in Trümmern und einen
Putin in verzweifelter auswegloser Lage dargestellt hatte, schlug sie vor,
einen neuen START-Vertrag auszuhandeln, die Nutzung des Internets durch die
Russen zu bekämpfen, den Beitritt der Ukraine zur EU [dann zur NATO] sowie die
bewaffnete Opposition in Syrien zu unterstützen. Sie stellte sich
US-Investitionen in Russland vor, um dieses arme Land zu modernisieren, im
Austausch für eine politische Ausrichtung des letzteren mit den ›westlichen Demokratien‹. Der Kreml empfing sie dennoch, wie
er auch die Abhaltung des Biden-Putin-Gipfels in Genf akzeptiert hat, obwohl
der US-Präsident seinen russischen Amtskollegen im Fernsehen beschimpft hatte. Aus
diesen geschlossenen Sitzungen ist nichts durchgesickert. Aber es ist sehr
wahrscheinlich, dass Frau Nuland Russland erneut bedroht hat, denn das ist es,
was sie seit zwanzig Jahren ununterbrochen tut. Auf jeden Fall bestätigte der
russische Aussenminister Sergej Lawrow, dass sie nicht bereit sei, die
Umsetzung des Minsker Abkommens zur Lösung der ukrainischen Krise zu
unterstützen. Sobald ihre Reise nach Moskau vorbei war, begab sich Nuland nach
Beirut, um die neue Regierung von Najib Mikati zu treffen, dann nach London, um
Sturm zu läuten. Sie kündigte dort an, dass Moskau Truppen an der ukrainischen
Grenze zusammenlege und sich auf eine Invasion des Landes vorbereite. Ferner
hatte das ›National Endowment for
Democracy‹ ›NED‹, dessen ehemalige
Verwalterin Victoria Nuland ist, seit der Ankunft von Joe Biden im Weissen Haus
Millionen von Dollar ausgegeben, um die Demokratie in Kasachstan ›auszuweiten‹. Drei Wochen später eilte CIA-Direktor William Burns nach Moskau,
um zu reparieren, was Nuland zerstört hatte. Er bemühte sich um Versöhnlichkeit
und wurde von Präsident Putin selbst empfangen. Washington hat jedoch jetzt
aufgehört, Wechselbäder zu bereiten.
Nach der Rüstung der
Ukraine, der Unterstützung der Dschihadisten in Syrien, dem Versuch eines
Regimewechsel in Weissrussland, nach der Nutzung der Spannungen im Südkaukasus
mit dem aserbaidschanischen Angriff auf Armenien, versucht Washington nun den
Einfluss Moskaus in Kasachstan zu verringern. Kurz gesagt, es verfolgt den Plan
der Rand Corporation und sollte bald mit Russland in Transnistrien wettstreiten.
Die Vereinigten Staaten mobilisierten die EU, um eine Wirtschaftsblockade gegen
diesen nicht anerkannten Staat zu betreiben, dessen Bevölkerung sich während
der Auflösung der UdSSR durch ein Referendum von Moldawien getrennt hat. Unter
der Leitung von Stefano Sannino überwachen Beamte der EU-Mission [›EUBAM‹] die
moldauischen und ukrainischen Zölle zur Unterstützung des Grenzschutzes in
Moldawien und der Ukraine, um das Land seit dem 1. Januar 2022 zu blockieren.
Russland wird gezwungen sein, die ehemalige sowjetische Weltraumbasis zu einer
Luftbrücke umzubauen, um die 500.000 Einwohner der Enklave zu ernähren. Bereits
1992 hatten die USA schon vergeblich versucht, Transnistrien - heute die moldauische Republik Dnjestr
- mit einer aus rumänischen Gefängnissen
rekrutierten Armee militärisch zu zerschlagen.
Zusammenfassend lässt
sich sagen, dass Washingtons Antwort auf Moskaus Vorschlag eines Vertrags zur
Sicherung des Friedens zwar offiziell ein Stopp seines Vormarsches nach Osten
war, inoffiziell aber bedeutet, dass Washington immer noch die Fähigkeit hat,
Schaden anzurichten.
[1] https://seniora.org/politik-wirtschaft/massaker-in-kasachstan-die-usa-treffen-russlands-weichen-unterleib 6. 1. 2022
https://www.facebook.com/anna.sedowa.9
[2] https://jungefreiheit.de/politik/ausland/2022/kasachstans-praesident-erteilt-schiessbefehl-gegen-demonstranten/ 7. 1.
22
[3] http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/deutschland/markus-gaertner/das-streng-geheime-drehbuch-gladio-b.html 30. 12. 14
Das streng geheime Drehbuch: Gladio B
- Markus Gärtner
[4] https://www.anti-spiegel.ru/2022/warum-die-unruhen-in-kasachstan-offensichtlich-eine-weitere-farbrevolution-sind/ 6. 1.
22
[5] https://www.strategic-culture.org/news/2022/01/06/steppe-on-fire-kazakhstan-color-revolution/ 6. 1. 22
https://www.theblogcat.de/uebersetzungen/die-steppe-brennt-06-01-2022/
[6] https://www.voltairenet.org/article215275.html 11. 2. 22
[7] «Pinning Down Putin»; Victoria
Nuland, Foreign Affairs Vol. 99 #4, July 2020
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